Währung ohne Basis
Abschied vom Goldstandard vor 35 Jahren
Von Heerke Hummel
Was würden Sie, liebe
Leser, denken, geschweige denn tun, käme jemand daher und lüde Sie ein, in
wenigen Tagen gemeinsam des 35. Jahrestages der
Weltrevolution zu gedenken? Das wenigste wäre wohl die bekannte Bewegung mit
dem Zeigefinger an den Kopf.
Und dennoch: Als der 37.Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Richard
M. Nixon, am 15. August 1971 das Abkommen von Bretton Woods aus dem Jahre 1944
einseitig aufkündigte und in seiner sonntäglichen Fernsehansprache der
verblüfften Welt mitteilte, die USA würden ihrer ehemals übernommenen
Verpflichtung, je 35 US-Dollar gegen eine Feinunze Gold einzutauschen,
fürderhin nicht mehr nachkommen, da vollzog er mit einem Federstrich, ohne
einen einzigen Schuß abzugeben und ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, was
Karl Marx rund 100 Jahre zuvor als die revolutionäre Aktion des internationalen
Proletariats prognostiziert hatte. Die Schüsse waren in den Jahren zuvor
gefallen und das Blut in Strömen während des Vietnam-Krieges der USA geflossen.
Die Entscheidung des Präsidenten war, obgleich – oder gerade weil– aus einer
Notsituation heraus geboren, aus nationaler Sicht ein finanztechnischer
Geniestreich; auch wenn sie bei genauer Betrachtung als Eigentor des
internationalen Finanzkapitals zu bewerten ist, dessen man sich bis heute wohl
noch gar nicht bewußt geworden ist. Was war geschehen?
Supermacht in der Krise
Seit zweieinhalb Jahrzehnten hatte sich in
der globalen Auseinandersetzung zwischen Ost und West das realsozialistische
Lager – wenigstens scheinbar – auf dem Vormarsch befunden. Zu dessen
wichtigsten Stationen gehörten die Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs
auf Osteuropa und die Errichtung einer kommunistischen Ordnung in China, die
Brechung des Atombombenmonopols der USA und der erste Sputnikstart sowie die
erste menschliche Erdumrundung im Weltraum durch die Sowjetunion, die Auflösung
des Kolonialsystems – teilweise mit sozialistischer Orientierung– und
schließlich der Kampf um die Wiedervereinigung Vietnams unter kommunistischer
Flagge. Jahrzehntelang hatten die USA »über ihre Verhältnisse« gelebt, um ihre
Vormachtstellung in der Welt vor allem militärisch zu festigen – auf Kosten der
Wirtschaft und der Infrastruktur, deren Modernisierung vernachlässigt wurde.
Den Konflikt in Vietnam hatten die USA zu ihrem eigenen Krieg gemacht.
Finanziert wurde diese auf Weltherrschaft orientierte Politik durch zunehmende
Staatsverschuldung, in hohem Maße auch gegenüber Westeuropa. Das war umso
leichter, als dafür noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem Abkommen
von Bretton Woods günstige politisch-ökonomische Bedingungen geschaffen worden
waren. Auf diese Vereinbarung, bezeichnet nach dem im US-Bundesstaat New
Hampshire gelegenen Städtchen, wo sie am 27. Juli 1944 von 44 Staaten
unterzeichnet wurde, hatten sich nach dreijährigen Diskussionen und
Auseinandersetzungen führende Wirtschafts- und Finanzexperten der britischen
und der amerikanischen Regierung geeinigt. Sie machte den US-Dollar zur
Leitwährung der westlichen Welt, indem unter anderem ein System fester
Wechselkurse der anderen Währungen gegenüber dem Dollar beschlossen wurde und
die US-Zentralbank sich verpflichtete, Dollar in Gold einzulösen. Die USA waren
völlig autonom in ihrer Währungs- und Geldpolitik, während alle anderen
Mitglieder des Bretton-Woods-Systems ihren Wechselkurs gegenüber dem Dollar
durch Devisenmarktinterventionen sicherzustellen hatten. Nur wenn sich
dauerhafte Ungleichgewichte ergäben, sollte im Rahmen einer internationalen
Vereinbarung der Wechselkurs verändert, also die entsprechende Währung auf-
oder abgewertet werden können.
Gegen Ende der sechziger Jahre geriet der US-Dollar mehr und mehr unter Druck.
Die Ursachen dafür lagen sowohl in der Entwicklung der Weltwirtschaft
(Ergänzung des wachsenden internationalen Warenaustausches durch das zunehmende
Bedürfnis nach freiem Kapitalverkehr, also Globalisierung aller ökonomischen
Prozesse von der Investitions- und Produktionstätigkeit bis zu Dienstleistungen
und Handel mit Waren, Geld und Wertpapieren) als auch in der
(Weltmacht-orientierten) Politik der US-amerikanischen Regierungen. Solange die
USA keine großen Außenhandelsdefizite aufwiesen, funktionierte das System von
Bretton Woods ziemlich reibungslos. Als aber die USA begannen, ihre
Hegemonialpolitik durch Erhöhung der umlaufenden Geldmenge (und damit indirekt
durch die anderen Mitgliedsländer des Systems bzw. durch die auf Dollarbasis
handelnden Staaten) zu finanzieren, wurde die Welt mit der US-Währung
überschwemmt. Die angeschlossenen Länder bzw. ihre Notenbanken mußten Dollar
aufkaufen, um ihre Wechselkurse auf dem beschlossenen Niveau zu halten. Diese
Kurse stimmten mit der ökonomischen Realität häufig nicht mehr überein. Schon
1969 entsprachen die Goldreserven der USA nicht einmal mehr den Dollarbeständen
eines einzigen Mitgliedslandes (Frankreichs). Im August 1971 aber deckten sie
nur noch zu einem Viertel die tatsächlichen Auslandsschulden ab.
Genialer Befreiungsschlag
Damit war der papierne US-Dollar zu einer
höchst unsicheren Währung geworden. Denn die Wahrscheinlichkeit, das
Versprechen seiner Einlösung gegen Gold zum Kurs von 35 Dollar je Unze im Falle
einer allgemeinen Flucht aus dem Papiergeld wahrnehmen zu können, war auf 25
Prozent gesunken. Wer ihn besaß, versuchte, ihn schnell wieder loszuwerden und
möglichst in Realwert (z.B. Gold) zu verwandeln. Und darum stieg der Goldpreis
im freien Handel. Mitte Juli 1971 lag er bereits bei 40,40 Dollar je Unze (also
mehr als fünf Dollar über dem amerikanischen Notenbank-Standard!), am 28. Juli
schon bei 41,975 Dollar und tags darauf sogar bei 42,09 Dollar. In Europa
wurden Vorsichts- und Abwehrmaßnahmen ergriffen. In der Schweiz wurde nach
Angaben des Handelsblatts vom 2.August 1971 unter anderem »in Aussicht
genommen, die Flucht (von Geld) in die Schweiz unattraktiv zu machen durch eine
Aufhebung (!) der Verzinsung dieser Gelder«. Und zwei Tage später war an
gleicher Stelle unter der Überschrift »Frankreich verschärft Abwehrmaßnahmen
gegen den Devisenzufluß – Banken sollen spekulative Transaktionen ablehnen« zu
lesen: »Die Bank von Frankreich hat … in einem Rundschreiben an die zum
Devisenhandel zugelassenen Banken das Niveau der Auslandsverbindlichkeiten
dieser Banken auf dem Stand vom 3.August blockiert« – was bedeutete, daß die
Banken ihre Dollarbestände nicht weiter erhöhen durften. Zu allem Überfluß
verzeichnete die New Yorker Börse nun auch noch Kurseinbrüche bei Aktien, so
daß die Presse um den 10. August titelte: »Flucht aus dem Dollar und amerikanischen
Aktien«, »Schweiz tritt die Bremsen gegen ›hot money‹-Zuflüsse durch«,
»Bundesrepublik und Schweiz im Brennpunkt der Devisenmärkte« oder »Hektik im
Devisenhandel hält an«.
Zwar war schon seit geraumer Zeit für den September eine Tagung des Internationalen
Währungsfonds geplant, auf der über einen Vorschlag der USA beraten werden
sollte, »die Bandbreite, innerhalb der die Währungen gegenüber dem Dollar
schwanken dürfen, von bisher ein auf drei Prozent beiderseits der Paritäten zu
erweitern«, doch für solche Reförmchen, über die man sich zudem noch nicht
einmal geeinigt hatte, war es Mitte August bereits zu spät. Angesichts der
Dramatik der Situation blieb Präsident Nixon nichts anderes übrig, als dem
Vorschlag seines Beraters Paul A. Volcker und anderer Experten zu folgen und
drastische Maßnahmen (wozu neben der Aufhebung der Goldkonvertibilität des
US-Dollars auch ein Lohn- und Preisstopp sowie Handelsrestriktionen gehörten)
zu ergreifen, die von Kommentatoren als »Jahrhundertvertragsbruch der USA«
qualifiziert wurden und bis zu ihrer Verkündung am 15.August 1971 für alle Welt
undenkbar waren. Viel weiter reichten die öffentlichen Einschätzungen nicht.
Die neuen wirtschafts- und währungspolitischen Maßnahmen der US-Regierung
hätten in der ganzen Welt eine fast totale Verwirrung ausgelöst, hieß es in
Zeitungsberichten. Wegen der Unsicherheit über die Zukunft des Dollars und der
übrigen Währungen wurden an nahezu allen großen Finanzzentren die Devisenbörsen
geschlossen. Ebenso war der internationale Goldhandel »von größter Unsicherheit
überschattet« (die Preise stiegen auf bis zu 48 Dollar je Unze), zumal mit dem
Londoner Devisenmarkt auch die dortige Goldbörse geschlossen blieb. Nach
Meinung der führenden Währungspolitiker war die nun doch eingetretene
»undenkbare« Situation einer Darstellung des Handelsblatts zufolge so zu
interpretieren: »Da der Dollar zwar nicht de jure, aber doch de facto vom Gold
völlig gelöst ist, ist erstens für die anderen Währungen die Bezugsbasis
entfallen, und zweitens können sich die USA nicht mehr auf ihre Befreiung von
der Interventionspflicht an den Devisenmärkten berufen. Der Dollar hat seine
Vorzugsstellung eingebüßt …, er ist vogelfrei.« Und dann interessierte die Welt
des Kapitals vor allem nur noch die Frage, ob Nixon vor der
Protektionisten-Lobby in die Knie gegangen wäre und es einen Abfall zum
»Neo-Dirigismus« gäbe, der die Freiheit des Kapitals beschränkte. Noch
nüchterner betrachteten deutsche »Konjunkturforscher« die Angelegenheit. Sie
sahen »keinen Anlaß für Sofortmaßnahmen«. Im Gegenteil: Die Dämpfung der
Konjunktur, die von den neuen Kursverhältnissen ausging, sei eher erwünscht
gewesen und ein »wertvoller Beitrag zur deutschen Stabilitätspolitik«.
Bundesfinanzminister Karl Schiller zeigte sich erschreckt – »von der
gegenwärtigen Tendenz, physische Kontrollen als Vademecum anzusehen und das
Kräftespiel des freien Marktes zu opfern«. In solcherlei Statements erschöpfte
sich im wesentlichen die ökonomische Philosophie über den amerikanischen
Präsidentenbeschluß.
Drei Jahrzehnte später rief der Ökonom Georg P. Christian in einem Aufsatz mit
dem Titel »Vom kommenden Sturz des Dollarkapitals«1 den amerikanischen Coup ins
Gedächtnis und seine ganze Bedeutung ins Bewußtsein. Mit dem Aufkündigen des
Abkommens von Bretton Woods, schrieb er, nötigte die Regierung der Vereinigten
Staaten der gesamten Welt(-wirtschaft) einen Dollarstandard ohne jede
Golddeckung auf. Seit diesem Tag sei jeder einzelne Dollar von zig Billionen in
den USA und anderswo angelegten oder nach Anlage suchenden Buchgeldes in der
US-Währung ein Zahlungsversprechen und Anspruch auf realwirtschaftliche Güter
und Erträge aus der Nationalökonomie der USA. Zum Vergleich: Nominell lag deren
Bruttoinlandsprodukt Ende des Jahres 2000 bei zehn Billionen Dollar. Kein
Problem, so scheine es, wenn man dieser Zahl die 26 Billionen Dollar
Verschuldung gegenüberstellt: bloß das Zweieinhalbfache. Pikant werde der
Vergleich aber erst dann, wenn man nach der Zahl schaut, die an Stelle der
Goldreserve von 1971 die Solvenz zur Verschuldung abgeben müßte: die Gewinne
der Unternehmen (ohne den Finanzsektor). Und die betrugen im Jahre 2000 blasse
550 Milliarden Dollar. Die Verschuldung der Vereinigten Staaten war also,
bemerkte G.P. Christian, Ende 2000 zu etwas mehr als zwei Prozent von der
nominellen Mehrwertproduktion in der amerikanischen Wirtschaft als Solvenz
gedeckt. Für die Zukunft erwartete er noch geringere Werte.
Und abgesehen davon – die USA entledigten sich 1971 jeglicher finanziellen
Verpflichtung. Es war ein genialer finanztechnischer Trick zur Entschuldung des
amerikanischen Staates bzw. seiner Bank. Die zig Billionen Dollar in der Welt
repräsentieren überhaupt keine bestimmte Wertmasse mehr. Waren und Leistungen,
die für dieses Geld einmal erworben bzw. verkauft wurden, sind längst
verbraucht. Und wer dieses Geld heute besitzt, hat nur noch »Ansprüche« in der
Hand. Aber wem gegenüber eigentlich? Niemand in der Welt ist oder hat sich
verpflichtet, seine Waren und Leistungen gegen diese Scheine und schon gar
nicht in einem bestimmten Verhältnis zu verkaufen. Und mit den übrigen
Währungen ist es seitdem nicht besser bestellt. Aller Handel beruht nur noch
allein auf dem allgemeinen Vertrauen und der Hoffnung darauf, daß man mit
diesem Geld auch künftig wie bisher kaufen kann und notfalls »der Staat« die
Sache schon richten werde – aller Ablehnung staatlichen Dirigismus’ zum Trotz.
Zunächst war – und ist immer noch – dieses Vertrauen vorhanden. Und es gab und
gibt auch gar keine andere Möglichkeit, als mit diesen papiernen Scheinen zu
handeln wie bisher, denn es ist seitdem kein »besseres« Geld mehr in Umlauf.
Die Weltwirtschaft mußte sich damit abfinden und reagierte auf ihre Weise. Der
Aufhebung der Golddeckung des Dollars folgten rasch die Beseitigung der festen
Wechselkursrelationen und die Aufhebung der Einschränkung von
Kapitalbewegungen. Ein Land nach dem anderen sah sich unter dem Druck der
internationalen Märkte gezwungen, die nationalen Kontrollen aufzuheben. Die
Folge war eine Reihe von verlustreichen Stürmen im internationalen
Finanzsystem, die von Mal zu Mal heftiger wurden, aber durch internationale
staatliche Absprachen und teils massive Eingriffe der Finanzbehörden immer
wieder beigelegt werden konnten. Japan-, Mexiko- und Asien-Krise gehörten zu den
wichtigsten Meilensteinen dieser Entwicklung.
Ungewollte Vergesellschaftung
Mit zunehmendem Alter schwankt die
bürgerliche Welt mehr und mehr zwischen dem Bedürfnis, der Freiheit der
privaten Eigentümer keine Grenzen zu setzen, also die staatliche Einflußnahme
auf die Wirtschaft zu beschränken, und dem Verlangen, sich ihrer gerade zu
bedienen, wenn es darum geht, die ökonomischen Verhältnisse und vor allem die
Kapitalverwertung zu sichern. Bereits in den 20er Jahren des vorigen
Jahrhunderts beklagte der österreichische, später in die USA emigrierte
Wirtschaftswissenschaftler Ludwig von Mises eine zunehmende »Sozialisierung«,
die er in der Beschneidung privater Eigentumsrechte witterte und die soweit
ginge, daß schließlich vom Eigentum nur noch der leere Name bliebe, der
Unternehmer aber auf die Stellung eines am Ertrag beteiligten Angestellten
herabgedrückt würde.
Die Maßnahmen von 1971 nun betrafen nicht nur die Rechte privater Geld- bzw.
Kapitalbesitzer, sondern veränderten direkt die ökonomischen Sachverhalte und
Beziehungen, auch wenn dies gar nicht beabsichtigt war und man sich dessen bis
heute nicht in vollem Maße bewußt geworden zu sein scheint. Denn mit der
endgültigen Verwandlung des Geldes aus einer Ware (Gold) in ein reines
Arbeitszertifikat wurde der Herausgeber dieses Geldes, also letztlich der
Staat, zum Schuldner gegenüber jedermann, der dieses Geld besitzt. Er, der
staatliche Herausgeber, trägt die letzte Verantwortung dafür, daß dieses Papier
seine »Geldfunktion« erfüllt und mit ihm Waren nach Bedarfslage gekauft werden
können, kurz, daß der gesellschaftliche Reproduktionsprozeß funktioniert. Die
Wirtschaft ist keine Privatsache mehr, sondern öffentliche Angelegenheit, und
die Politik ist verpflichtet, sich ihrer anzunehmen. Nicht um »Vergesellschaftung«
geht es heute mehr, sondern um eine den Erfordernissen gerecht werdende
Wirtschafts- und Finanzpolitik – in welchen Organisationsformen und Dimensionen
auch immer. Diese »Bestätigung für geleistete Arbeit« postuliert staatlich
sanktionierten Anspruch auf das geschaffene Produkt entsprechend der gegebenen
Arbeitsmenge. Das Produkt selbst hat so seinen privaten Charakter verloren, ist
vergesellschaftet worden.
Mit dem Präsidentenbeschluß der USA aus dem Jahre 1971 wurde also das Kapital
enteignet, ihm sein privater Charakter genommen; und zwar weltweit, weil bzw.
soweit die anderen Währungen vom Dollar als Leitwährung abgeleitet waren und
nun ebenfalls ihre »goldene Basis« verloren haben. Eine weltweite Veränderung
der Produktionsverhältnisse wurde vollzogen. Karl Marx hatte dies in seiner
»Kritik des Gothaer Programms« mit den Worten angekündigt: »Womit wir es hier
zu tun haben, ist eine … Gesellschaft, … wie sie eben aus der kapitalistischen
Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich,
geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus
deren Schoß sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne Produzent ... von der
Gesellschaft einen Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert …, und zieht mit
diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat … soviel heraus, als gleich
viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer
Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück.« (MEW 19, S. 20)
Auf den ersten Blick scheint dieser Vergleich angesichts der heutigen Realität
absurd zu sein. Doch Marx konnte nicht ahnen, daß die »Muttermale der alten
Gesellschaft«, besonders die bis zur sinnlosen Selbstzerstörung reichende Gier
nach Geld und Profit sich einmal als solche schlimmen Pestbeulen und
Krebsgeschwüre der menschlichen Gesellschaft erweisen würden. Außerdem sollen
hier nicht die skandalösen Erscheinungen der heutigen Gesellschaft
gerechtfertigt, sondern das Wesen ihrer ökonomischen Beziehungen erhellt
werden, über welches sich diese Gesellschaft noch immer den allergrößten
Illusionen hingibt, von denen die Vorstellung von Geld und Reichtum vielleicht
die verhängnisvollste ist. Doch immerhin tritt allmählich die Problematik
wenigstens als dunkle, mehr gefühlte als erkennende Ahnung auch ins bürgerliche
Bewußtsein; beispielsweise, wenn im Frühjahr der Stern mit einer Serie über die
»Geschichte des Kapitalismus« aufwartete und feststellte, der Kapitalismus habe
eine neue Stufe erreicht, aber er drohe auch seinen Sinn zu verlieren, denn
Geld sei »nur noch dazu da, mehr Geld zu schaffen, ohne Umweg über Fabriken,
Waren, Arbeitsplätze«. Wer mag sich auch schon die ganze Wahrheit eingestehen,
daß man seit geraumer Zeit mit dem Eifer von geradezu Besessenen nur noch einem
Phantom nachjagt?
www.jahrbuch2001.studien-von-zeitfragen.net/Global/Bretton_Woods/bretton_woods.html
Der Beitrag ist zuerst am
10.8.06 in „junge Welt“
erschienen. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Der Autor veröffentlichte
Ende vorigen Jahres eine ökonomische Analyse der modernen Gesellschaft, auch
mit einer neuen Sichtweise auf die jüngere Geschichte. – H. Hummel: Die
Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum. ISBN
3-86634-048-6, Projekte-Verlag, Halle, 504 S., geb., 38,25 Euro